Mut im Blick, der Mund im Schrei verzerrt, zerstörerische Energie. In der linken Hand das Gewehr, in der rechten der bereits gezündete Molotow-Cocktail, den der Guerillakämpfer gleich mit voller Wucht ins feindliche Lager schleudern wird. Diese 1979 von Susan Meiselas in Nicaragua aufgenommene Fotografie ist über die Jahrzehnte zu einem internationalen Symbolbild gegen Unterdrückung und für Revolution geworden, fest verankert im kollektiven Bildgedächtnis und massenhaft reproduziert als Graffiti, Poster oder T-Shirt. Was jedoch bleibt von der fotografischen Botschaft, wenn sich die Beziehung zwischen Fotografin, abgebildeter Person und Entstehungsgeschichte in der Kommerzialisierung des Bildes auflöst?
C/O Berlin* stellt vom 29. April bis 9. September 2022 mit der Retrospektive „Susan Meiselas . Mediations“ das über 50 Jahre entstandene Werk der Magnum-Fotografin erstmals in Deutschland vor – von frühen Porträts ihrer direkten Umgebung, über intime Aufnahmen von Stripperinnen, bis zu ikonisch gewordenen Bildern aus Krisen- und Konfliktgebieten. Mit ihren oftmals als Langzeitstudien angelegten Arbeiten umfasst die US-Amerikanerin ein breites Spektrum an Themen und Ländern und erzeugt Aufmerksamkeit für Minderheiten und kriegerische Auseinandersetzungen, die von der Weltöffentlichkeit häufig übersehen werden. Heute gilt Meiselas als Wegbereiterin, nicht nur für politisch engagierte Fotografen, welche die Hintergründe ihrer Bilder mit Sorgfalt dokumentieren, reflektieren und kontextualisieren, sondern auch für diejenigen, die einen kollaborativen Ansatz mit ihren Protagonisten verfolgen.
In ihren Serien 44 Irving Street (1971) und Porch Portraits (1974) untersuchte Meiselas unterschiedliche Lebensrealitäten innerhalb der USA. Zwei Jahrzehnte nach dem Beginn der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung veranschaulichen diese Arbeiten die fortbestehende Ungleichheit der Lebensverhältnisse.
Ebenso einfühlsam, empathisch und interaktiv widmete sich Meiselas in ihrem fotografischen Essay Carnival Strippers (1972-1975) dem Alltag von Frauen, die als Striptease-Tänzerinnen ihr Geld auf Jahrmärkten im Nordosten der USA verdienten. In ihrer Langzeitstudie Prince Street Girls (1975-1992) begleitete sie das Heranwachsen einer Gruppe von Mädchen aus New York mit der Kamera. Mit Archives of Abuse (1991-1992) und A Room of Their Own (2015-2017) engagierte sich Meiselas gegen Gewalt im häuslichen und familiären Kontext. Mit dem Langzeitprojekt Kurdistan: In the Shadow of History dokumentierte sie ab 1991 den Genozid an der kurdischen Bevölkerung im Nordirak durch das irakische Regime unter Saddam Hussein und trug eine visuelle Dokumentation aus diversen historischen Materialien zusammen, die hundert Jahre der kurdischen Diaspora festhalten.
Susan Meiselas sucht bis heute den direkten Kontakt und Dialog mit den Menschen. In ihrer kollaborativen Arbeitsweise bezieht sie stets die Perspektive der Porträtierten ein. Teilweise über Jahre hinweg führt sie visuelle Feldstudien, in denen die Fotografien selten für sich alleine stehen, sondern durch Interviews, Soundaufnahmen, Videos, Archivmaterial oder Notizen ergänzt werden. Diese Collagen zeigen nicht nur die Zusammenhänge hinter dem Abgebildeten, sondern laden ein zur Reflexion über die fotografische Praxis selbst, über Zeugenschaft und Hierarchien im fotografischen Akt ebenso wie über die Rezeption und Verbreitung von Bildern.
Susan Meiselas (*1948, Baltimore, USA) studierte am Sarah Lawrence College und machte ihren Master in Pädagogik an der Harvard University. Seit den 1970er-Jahren lebt und arbeitet sie in New York. Als eine von wenigen Frauen ist die Dokumentarfotografin seit 1976 Mitglied der renommierten Foto-agentur Magnum Photos. Mit ihrer Berichterstattung über die Revolu-tion in Nicaragua (1978-1982) wurde sie international bekannt. Ihre Arbeiten werden in den bedeutendsten Museen der Welt gezeigt.
C/O Berlin präsentiert mit „Susan Meiselas . Mediations“ in Zusammenarbeit mit Magnum Photos die größte Retrospektive, die je in Deutschland von ihr gezeigt wurde. Die Ausstellung umfasst rund 250 Fotografien und Video-Installationen aus den 1970er-Jahren bis heute und wird von der Publikation Carnival Strippers Revisited im Steidl Verlag begleitet.
*C/O Berlin im Amerika Haus in der Hardenbergstraße 22–24, 10623 Berlin, Öffnungszeiten: täglich 11:00–20:00
Credits:
Sandinistas at the walls of the Esteli National Guard headquarters, Nicaragua, 1979, © Susan Meiselas / Magnum Photo
Youths practice throwing contact bombs in forest surrounding Monimbo, Nicaragua, 1978, © Susan Meiselas / Magnum Photos
Self-Portrait, 44 Irving St., Cambridge, MA, 1971, © Susan Meiselas / Magnum
Pebbles with Enzo and Tina at the Carmine Street pool, Little Italy, New York City, 1978, © Susan Meiselas / Magnum
Family members wear the photographs of Peshmerga martyrs, Saiwan Hill Cemetery, Erbil, northern Iraq, 1991, © Susan Meiselas / Magnum Photo
Road to Aguilares, El Salvador, 1983, © Susan Meiselas / Magnum
Tentful of Marks, Tunbridge, Vermont, 1974, © Susan Meiselas / Magnum Photo
Dee and Lisa on Mott Street, Little Italy, New York City, 1976, © Susan Meiselas / Magnum Photo